WOLFGANG TEMME

Dr. Erika Wäcker-Babnik

München


Mit im Prinzip einfachen Mitteln gelingt es Wolfgang Temme durch seine Umschichtungen aus einem normalen Stück Baumstamm etwas völlig neues entstehen zu lassen, das in seiner geordneten, klaren Struktur und Geometrie der konkreten Kunst und der Kunst des Minimalismus entspricht, ja aus deren Geist hervorgeht. Doch trotz der systematischen und analytischen Herangehensweise in der Gestaltung der Skulpturen ist das Material selbst, nämlich das Holz, und seine Quelle, der Baum, keineswegs eliminiert, sind die einzelnen Schnittstücke doch so wieder zusammengefügt, dass der ehemalige Stamm in Umfang, natürlichem Wuchs und mit seiner Rinde sichtbar wird, ja mehr noch, ganz offensichtlich für die Proportionen und den Rhythmus der Skulptur verantwortlich ist.
Und so haben wir es mit künstlerischen Objekten zu tun, die trotz ihres strengen Formwillens die Natur nicht verleugnen. Und genau in dieser Ambivalenz liegt eine ganz besondere Spannung, die die visuelle Raffinesse um eine inhaltliche erweitert.

In den Skulpturen von Wolfgang Temme verbinden sich auf eindrückliche Weise Naturästhetik und künstlerische Formensprache, Organik und Konstruktion, Chaos und Ordnung, Sinnlichkeit und Rationalität, Natur und Mensch. Doch sind das Gegensätze? Liegt nicht dem scheinbar Willkürlichen der Natur eine tiefere Ordnung inne? Folgt nicht die Natur selbst strengen Gesetzen? Auch wenn kein Baum einem anderen gleicht und der Wuchs des Stammes und der Äste bis in die kleinste Verzweigung hinein von etlichen Zufällen und Konstellationen abhängt, so ist eine Eiche doch eine Eiche, eine Kiefer doch eine Kiefer. Jede Pflanze lässt sich auf einen genauen Bauplan herunterbrechen, der die Gattungen voneinander unterscheidet. Und so können diese Skulpturen als Metaphern för die Wesenhaftigkeit der Natur gelesen werden, indem sie einerseits auf die konstruktive Beschaffenheit einer jeden Pflanze verweisen, andererseits ihrer Individualität Rechnung tragen.

Und mehr noch: Birgt doch der gleichmäßige Rapport der Schichten den Aspekt der Zeit. So wie sich der Wuchs eines Baumes an seinen Ringen ablesen lässt, und sich, wenn man so will, bis in alle Ewigkeit fortsetzen ließe, so lassen sich die Skulpturen von Wolfgang Temme weiter und weiter in die Höhe denken. Jahresringen gleich verweisen die Abfolgen seiner Schichtungen auf ein Raum-Zeit-Kontinuum, das in seiner ganzen Ausdehnung von uns menschlichen Kleingeistern intellektuell nicht erfassbar ist, das sich jedoch in allem Werden und Vergehen zumindest ausschnitthaft andeutet.

aus der Eröffnungsrede anlässlich der Ausstellung
Skulpturen im Innenhof
Münchner Künstlerhaus 2009